🗞 36/2024
Unser einmaliger individueller Blick · KI für Notfälle · Gesundes-Herz-Gesetz · Depressionen früher behandeln · Prävention im Sport · Macht Glückshormon blind für Gefahren? · MINQs Choice: Prof. Dr. Martin B. E. Schneider · Prof. Dr. Dr. med. dent. Dr. h.c. Ralf Siegert · Prof. Dr. Horst Sievert
📌 5 weekly picks
1 📌 Unsere Augenbewegungen formen individuelle visuelle Welten
Wenn zwei Personen das gleiche sehen, “sehen” sie noch lange nicht das gleiche. Eine aktuelle Untersuchung von Forscherinnen der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass jedes Gehirn eine eigene Version zum Beispiel beim Sehen eines Films abbildet. Die Studie legt nahe, dass der individuelle Blick auch individuelle visuelle Welten formt. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) publiziert.
Komplexe visuelle Reize rufen bestimmte Muster im Gehirn hervor. Bisherige frühere Untersuchungen legten nahe, dass diese neuronalen Repräsentationen von Gehirn zu Gehirn geteilt werden, also identisch sind. Die aktuelle Untersuchung hingegen, die sich des Verfahrens des Hyperalignments bedient, um visuelle Reaktionen von unterschiedlichen Beobachtern zu vergleichen, die identische Reize betrachten, kommt nun zu dem Ergebnis, dass offenbar individuelle Augenbewegungen die visuellen Reaktionen des Kortex verstärken und auch zu einer Divergenz der Repräsentation führen.
Die Forscher:innen wiesen auf die Ergebnisse aus einer anderen Studie hin, die individuelle Unterschiede in Szenenbeschreibungen und Blicken nachwies. Wie nun das Zusammenspiel zwischen Eigenheiten des individuellen visuellen Systems, des Blicks und der Wahrnehmung im einzelnen abläuft, sollte in weiteren Untersuchen erforscht werden. Welche Folgen diese Repräsentationsdivergenz für unsere Kommunikation, Kooperation, individuelle Vorlieben und Fähigkeiten hat, ist eine spannende Frage, die erst noch beantwortet werden muss.
Zur Pressemitteilung der Universität Gießen
Individual gaze shapes diverging neural representations Petra Borovska and Benjamin de Haas
Edited by Renée Baillargeon, University of Illinois at Urbana-Champaign, Champaign, IL; received March 21, 2024; accepted August 4, 2024
https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2405602121
2 📌 KI hilft bei der Lebensrettung
Lebensrettung kann mit Hilfe künstlicher Intelligenz verbessert werden; besonders bei speziellen, kritischen Einsatzlagen wie einem Szenario mit zahlreichen Verletzten oder bei seltenen Notfällen, wie etwa einem Schlangenbiss, wenn schnell richtig gehandelt werden muss, könnte die Unterstützung der Ersthelfer durch intelligente Geräteunterstützung optimiert werden.
Die Ergebnisse des KIRETT-Projektes (Abkürtung für: "Computerunterstützung durch künstliche Intelligenz bei Rettungseinsätzen zur Verbesserung der Erstversorgung“), das jetzt an der Universität Siegen abgeschlossen wurde, sind positiv. Ein einleuchtendes Einsatzgebiet der KIRETT-Wearables ist die präklinische Versorgung in ländlichen Gebieten bei komplexeren Rettungsszenarien. In Regionen, in denen der Zugang zu medizinischer Versorgung begrenzt ist, könnte ein Wearable die schnelle Erstversorgung auch durch weniger erfahrenes Personal sinnvoll unterstützen. Für Prof. Roman Obermaisser, den Leiter des Projektes, sind die beiden wichtigsten Errungenschaften des Wearables der neuartige KI-basierte Algorithmus zur Erkennung von Komplikationen und die geringe Inferenzzeit für die Krankheitsprognose: „Bei Rettungseinsätzen ist Zeit der kritischste Faktor, der bei begrenzter Datenverfügbarkeit zu berücksichtigen ist, und hier soll das KIRETT-Gerät mit seiner Innovation einen wichtigen Beitrag leisten“, betont Obermaisser.
KIRETT gehört zum Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ und wurde gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Initiative „KMU-innovativ“.
3 📌 Wie gut ist das neue „Gesundes-Herz-Gesetz“?
Am 28. August 2024 hat das Bundeskabinett den Entwurf zum „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG) beschlossen. Durch das Gesetz sollen Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen möglichst früh erkannt und bekämpft werden. Dafür sieht es den Ausbau von Früherkennungsuntersuchungen, neue strukturierte Behandlungsprogramme und die Verbesserung von Therapiemöglichkeiten vor.
Was denkt der MINQ-Spezialist Professor Dr. Norbert Frey, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie des Universitätsklinikums Heidelberg über das neue Gesetz? Könnte es wirklich zahlreichen Menschen das Leben retten? Ist es sinnvoll, bereits Kinder und Jugendliche auf erhöhte Blutfette untersuchen zu lassen? In einem Interview mit der Pressestelle seiner Uniklinik würde er zustimmen, “wenn das Gesetz dann auch umgesetzt wird, dann hat es tatsächlich das Potenzial, sogar Leben zu retten.
“In Wirklichkeit ist es so, dass ich selbst gar nicht selten auch junge Patienten, die vielleicht erst 40 Jahre alt sind, mit Herzinfarkt behandle, die schlank sind, viel Sport gemacht haben und dann aus allen Wolken fallen, wenn man ihnen sagt: Kein Wunder, Sie haben ein stark erhöhtes Cholesterin. Das war ihnen nicht bekannt. Insofern begrüße ich es, frühzeitig, zum Beispiel schon im Jugendalter, gerade genetisch bedingte sehr starke Cholesterinerhöhungen zu erkennen.”
Erwachsene sollen im Alter von 25, 40 und 50 Jahren Herz-Check-ups erhalten. Es wird auf Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht und Blutfette geschaut. Wie viele Menschen sind in diesem Alter denn schon von einem oder mehreren dieser Risikofaktoren betroffen?
“Da gibt es eine hohe Dunkelziffer. Ich fange mal beim Bluthochdruck an. Bei über 60-Jährigen haben bis zu 50 Prozent der Bevölkerung einen Bluthochdruck. Und dann macht es natürlich auch Sinn, das rechtzeitig zu erkennen, also zum Beispiel in den 30er- und 40er-Jahren. Denn das Problem mit dem hohen Blutdruck ist: Der tut nicht weh. Man hat keine Beschwerden, man fühlt sich gut. Und wenn man nicht regelmäßig zum Hausarzt geht oder vielleicht nicht selber mal in der Apotheke oder bei sich zu Hause den Blutdruck misst, dann erkennt man das möglicherweise nicht. Einen erhöhten Blutdruck kann man heutzutage wirklich sehr gut behandeln, auch mit gut verträglichen Medikamenten. Und es ist dann schade, wenn das zu spät erfolgt und auch erst dann reagiert wird, wenn zum Beispiel ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall eingetreten ist."
4 📌 Chronische Depression - frühe Behandlung
Allein in Deutschland sind fünf bis sechs Millionen Menschen an einer Depression erkrankt. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen bleibt die Erkrankung über Jahre oder Jahrzehnte bestehen. Misshandlungen in der Kindheit sind hierfür ein Hauptrisikofaktor. Trotz ihrer Relevanz werden diese Erfahrungen in der Medizin bislang nicht systematisch erfasst. Forschende der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des LMU Klinikums haben jetzt zusammen mit einer Forschergruppe der Uniklinik Freiburg eine neue Form der Analyse dieser komplexen Belastungsmuster entwickelt, mit deren Hilfe das Ansprechen auf das Therapieverfahren „Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy“ (CBASP) für Menschen mit chronischen Depressionen vorhersagt werden kann.
„Menschen mit chronischer Depression und Beginn vor dem 21. Lebensjahr, die in ihrer Kindheit bestimmte Muster von Missbrauch erleben mussten, profitieren besonders von CBASP im Vergleich zu einer nicht-spezifischen Psychotherapie."
so MINQ-Spezialist Prof. Frank Padberg, einer der Hauptautoren der Studie. Damit sind Grundlagen gelegt für eine personalisierte Therapie der Betroffenen. Weitere Hauptautoren der neuen Studie sind unter anderem die MINQ-Spezialistin Prof. Dr. phil. Elisabeth Schramm und M.Sc. Moritz Elsaeßer von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikum Freiburg.
Für die klinische Praxis könnte der neue Analyseansatz sehr hilfreich sein, so Padberg:
„Eine einfach anwendbare Erhebung von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit bietet die Grundlage für eine individuelle Therapieentscheidung, die die Aussicht auf ein Therapieansprechen bei Menschen mit chronischen Depressionen verbessert.“
Es ergeben sich hieraus zudem weitere Fragen, denen die Münchner und Freiburger Forschenden weiter nachgehen wollen, unter anderem, ob dieser Ansatz auch für andere Psychotherapieformen relevant ist, und welche Informationen zu Belastungsmustern am aussagekräftigsten sind.
Childhood Trauma Questionnaire-based child maltreatment profiles to predict efficacy of the Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy versus non-specific psychotherapy in adults with early-onset chronic depression: cluster analysis of data from a randomised controlled trial
Goerigk S, Elsaesser M, Reinhard MA, Kriston L, Härter M, Hautzinger M, Klein JP, McCullough JP Jr, Schramm E, Padberg F.
Lancet Psychiatry, 2024 Sep;11(9):709-719
DOI: https://doi.org/10.1016/S2215-0366(24)00209-8
5 📌 Neues Testverfahren könnte Verletzungen im Profisport vorbeugen
Verletzungen im Profisport beenden die Karriere eines Leistungssportlers oft schlagartig und ziehen zudem oft als Konsequenz nach sich, ganze Mannschaften auszubremsen. Um hier besser vorsorgen zu können, haben Experten im Zentrum für Sport- und Bewegungsmedizin des Universitätsklinikums Leipzig (UKL) ein eigenes Testverfahren entwickelt. Damit sollen physische Schwachstellen der Sportler rechtzeitig entdeckt und mit speziellen Trainingsverfahren ausgeglichen werden, damit es nicht zu erwartbaren belastungsbedingten Verletzungen kommt. In dieser Saison kommt das neue Verfahren erstmals beim Nachwuchs der SC DHfK-Handballer zum Einsatz.
"Unser Ziel ist es, Verletzungen nicht nur zu heilen, sondern diesen auch vorzubeugen", erläutert Prof. Pierre Hepp, Unfallchirurg und Sprecher des Zentrums für Sport- und Bewegungsmedizin am UKL. Der langjährige Mannschaftsarzt der Bundesliga-Handballer betreut und operiert viele professionelle Sportler.
"Eine Verletzung so wieder auszugleichen, dass die Betroffenen wieder voll einsatzfähig sind, ist schwierig, langwierig und nicht immer zu 100 Prozent erfolgreich. Besser wäre es, wir verhindern vermeidbare Verletzungen von vornherein, vor allem bei den jungen Nachwuchsportlern." Prof. Pierre Hepp
Kern der Checks ist eine qualitative und quantitative Analyse des Bewegungsapparates mit Fokus auf Arme und Beine, um noch präziser und genauer als bisher festzustellen, ob es an bestimmten Stellen Unterschiede in der Belastbarkeit gebe. Werden diese festgestellt, setzt ein Präventionsprogramm ein. Das beinhaltet ein individuelles Training, das zusammen mit dem Athletiktrainer und der Physiothearpie angepasst wird, um hier gezielt ansetzen zu können.
Mehr hierzu auf den Seiten des UK Leipzigs
💬 Über den Tellerrand
1 Glückshormon Dopamin macht leider blind für Gefahren
Liebe macht blind. Und erhöht die Risikobereitschaft. Zumindest scheint das bei Fruchtfliegen zuzutreffen, wie aus einer internationalen Studie hervorgeht: "Männliche Fruchtfliegen ignorieren Gefahren wie Fressfeinde, wenn sie mit Balz und Paarung beschäftigt sind." Zwar sind die Fliegen in einer frühen Phase der Balz noch imstande, die drohende Gefahr zu erkennen, die Balz zu stoppen und zu fliehen. Doch im fortgeschrittenen Stadium der Balz, wenn die Paarung nahe ist, ignorierten die Fruchtfliegen-Männchen die simulierte Bedrohung.
Das Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Carolina Rezaval (Universität Birmingham) war daran interessiert, wie das Gehirn Entscheidungen trifft und dabei Chancen und Risiken gegeneinander abwägt. Dabei zeigte sich, dass mit fortschreitender Balz ein Anstieg des Glückshormons Dopamins die sensorischen Signale für Gefahren unterdrückt und die Reaktion der Fliege auf Bedrohungen verringert. Diese Entdeckung könnte dem Forschungsteam zufolge auf gattungsübergreifende Entscheidungsmechanismen bei Tieren und möglicherweise auch beim Menschen hindeuten, wobei Dopamin einen sensorischen Filter bildet, der es erlaubt, sich auf die drängendsten Ziele zu fokussieren. An der Forschungsarbeit beteiligten sich auch die Teams von Prof. Dr. David Owald vom Institut für Neurophysiologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Dr. Andrew Lin von der Universität von Sheffield.
Zur Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/s41586-024-07890-3
📣 Ankündigungen
1️⃣ "Altern ohne Grenzen" - neue Erkenntnisse in Gerontologie und Geriatrie
Verändern sich die Grenzen unseres aktuellen Denkens, verschwinden sie gar? Entstehen neue Grenzen? Was bedeuten die rasanten Veränderungen für die Medizin und das Soziale, für das Altern weltweit? Unter dem Motto „Altern ohne Grenzen“ erörtern die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) und Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) neue wissenschaftliche Erkenntnisse, technologische und gesellschaftliche Entwicklungen in Gerontologie und Geriatrie auf dem gemeinsamen Kongress in Kassel. Es geht u.a. auch um die Anwendung von KI in unterschiedlichen geriatrischen Kontexten. Die Veranstaltung leiten MINQ-Spezialist Prof. Dr. med. Markus Gosch vom Klinikum Nürnberg sowie Prof. Dr. habil. Kirsten Aner von der Universität Kassel.
📍Wo: Universität Kassel, Campus Holländischer Platz, Mönchebergstr. 19, 34125 Kassel
📅 Wann: 11. bis 14. September 2024
2️⃣ 50 Jahre Campus Großhadern - Tag der Offenen Tür
Führungen, Mitmach-Aktionen, Vorträge, Ausstellungen und Infostände - die LMU feiert 50 Jahre Klinikum Großhadern. Beim Tag der offenen Tür können verschiedene medizinische Themen praktisch erlebt werden:
- Übungen zur Wiederbelebung
- Virtual Reality in der Lungenheilkunde
- Begehbares Lungenmodell
- Simulation einer Kinderherz-OP
- Wundennähen unter dem OP-Mikroskop
- Trainingsbox für Bauchspiegelungen
- Pipettieren von Tumorzellen
Ein Rahmenprogramm mit Aktivitäten für Kinder, Biergarten mit Foodtrucks und Musik. rundet die Veranstaltung ab. Start ist um 10 Uhr in Hörsaal 6 mit einer Auftaktveranstaltung mit Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume, DFB-Co-Trainer [Sandro Wagner](https://www.dfb.de/sportl-strukturen/sportliche-leitung/trainer-junioren/sandro-wagner/kurzbiographie/#:~:text=Seit 1. Juli 2023 ist,Wagner Assistenztrainer der A-Nationalmannschaft.), Herztransplantationspatientin Tamara Schwab, ESA-Astronaut Thomas Reiter und Prof. Markus M. Lerch, Ärztlicher Direktor des LMU Klinikums.
📅 Wann: Samstag, 14. September 2024, 10 bis 16 Uhr
📍Wo: Universitätsklinkum München, Campus Großhadern, Marchioninistraße 15, 81377 München
🏆 MINQs Choice
Nach mehr als 25 Jahren aktiver Recherche und Erstellung der Ärztelisten, die seit 1997 regelmäßig zuerst in der Zeitschrift FOCUS publiziert wurden und seit 2022 im Magazin stern erscheinen, haben wir uns entschlossen, unter dieser Rubrik - gewissermaßen in eigener Sache - jede Woche auf 3 besondere Mediziner:innen zu verweisen.
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